Die Heimleiter leben ein luxuriöses Leben, während die Heimkinder um eine zweite Tasse Milch betteln, Plüschtiere oder Spielzeug gibt es nicht, ein Klima der Gewalt und Einschüchterung ist an der Tagesordnung. „Das Trauma verfolgt mich bis heute“, sagt Theodor Samt (richtiger Name ist der Redaktion bekannt) über seine Erlebnisse im Kinderheim Schaumburg in den siebziger Jahren. Der zweite Teil seiner Erinnerungen.

Rinteln

Was hinter den Kinderheim-Mauern geschah

Von Theodor Samt

Sonntags gab es immer die begehrten zwei Stunden Freiheit. „Freier Ausgang“, so hießen die Sternstunden, die häufig auch als Sanktionen genutzt wurden. In dem 2000-Seelen-Dorf Deckbergen hatten wir die Auswahl zwischen links die Straße rauf und rechts die Straße runter. Nein, kein Kino, keine Einkaufsmeile, kein Jugendclub, nicht einmal ein Bahnhof. Stattdessen Wälder, Felder, Kühe und eine alte Burgruine, frequentiert von Rentnern bei Sahnetörtchen und Kaffee.

Ein idyllisches Fleckchen im kleinen Örtchen Schaumburg – möchte man meinen. Bis in die späten siebziger Jahre hinein war in diesem Gebäude ein Kinderheim untergebracht. Jetzt erzählen mehrere Heimkinder von ihren oft traumatischen Erfahrungen. Wenigstens einen Tag blieben wir verschont von diesen militanten Marathonmärschen, manchmal bis zu 30 Kilometer lang, bei schlechtem Schuhwerk, Kälte und Regen. „Ich habe heute noch Narben an den Füßen“, erzählt R. W. (Name der Redaktion bekannt) und zieht an seiner Zigarette. Seine Hände zittern. Er ist einer der wenigen, die heute (zum Klassentreffen, Anm. der Red.) gekommen sind. Wenn sich hier wenigstens etwas verändert hätte.

Ein paar Häuser sind dazugekommen. Doch wir sitzen gemeinsam auf derselben Bank, auf dem kleinen Schulhof der Grundschule, wo wir vor über 35 Jahren saßen, so als sei es einen Monat her. Bis vor zehn Jahren wäre er nicht in der Lage gewesen, an diesen Ort zurückzukehren, erklärt R. Niemals hätten wir beide damals daran gedacht, dass wir mal den gleichen Berufsweg einschlagen und Tontechniker werden.

Wie oft bin ich die letzten Jahrzehnte an der Autobahn-Abfahrt vorbeigefahren und habe Herzrasen bekommen. Manchmal hatte ich den Blinker schon draußen, habe es mir dann im letzten Moment doch anders überlegt. Allein wollte ich an diesen Ort nicht zurück. Nun sitzen wir hier und schweigen uns an, als ob wir überlegten, wer eigentlich gerade das größere Trauma durchlebt. Diejenigen, die hier im ehemaligen Ritterheim eingesessen haben – oder die beiden Frauen, die als ehemalige Dorfschüler eigentlich nur ein Klassentreffen arrangieren wollten. Hartnäckig und akribisch recherchierten sie bei den Behörden, um auch alle Heimkinder zusammenzukriegen. Fast alle haben sie gefunden.

Mulmig war ihnen schon dabei, denn über die Zustände im Ritterheim gab es damals schon Gerüchte – und Schweigen. Für viele Dorfbewohner waren diese asozialen Kinder aus Hamburg ein Schandfleck. Schon zweimal hatten welche die Spendenbüchse an der Schaumburg geplündert. Wer war das damals eigentlich? Genug Bierfässer waren da, um das heute alles noch einmal fröhlich aufzuklären. Doch zum Klassentreffen kamen nur ein paar wenige Heimkinder. Bis auf drei oder vier hatte die Organisatorin mit allen Heimkindern oder Angehörigen telefoniert, ohne zu ahnen, was da auf sie zukam.

Die Stimmung ist bedrückend. Die Organisatorin nippt an ihrem Sektglas und lässt Revue passieren: Psychiatrie, Selbstmord, einfach aufgelegt, nie zurückgerufen, Selbstmord, Psychiatrie, Total-Amnesie, todkrank, verstorben, verschollen. „Rufen Sie mich nie wieder an und nennen den Namen G.“, hörte sie immer wieder.

Viele, die zugesagt hatten, kamen dann doch nicht. Männer um die 45, die das Trauma nicht verarbeitet haben. Sie wollten ein Klassentreffen arrangieren und deckten einen der schlimmsten Kinderheimskandale in Deutschland auf. Zu einer Zeit, als Brandt und Schmidt regierten.

Für die Dorfkinder war Horst G. schon als Lehrer eine Zumutung. Wir hatten ihn, gemeinsam mit seiner hysterischen Frau, auch als Heimleiter. Sie hatte das Ritterheim 1968 übernommen. Ein kleines, idyllisches Fachwerkhaus mit Historie, das mit rund 20 Kindern vom Jugendamt Hamburg belegt wurde. Jene Kinder aus sozialen Elendsverhältnissen, deren Eltern das Sorgerecht entzogen wurde. Damals an die 10 000 pro Jahr, heute an die 30 000.

Das Geschäftsmodell funktionierte damals wie heute. Was für 20 reicht, reicht auch für 26. Und so nahmen die G.’s gerne noch, gegen Gutes in bar, ein paar Private auf. Kinder aus eher geordneten Verhältnissen. Ich war eines davon. Privilegierte, die alle drei Wochen das Wochenende nach Hause fahren durften und deren Herz höher schlug, wenn samstagabends das Telefon klingelte. Die Zeit, in dem die Eltern anrufen durften und man darauf wartete, wessen Name aufgerufen wurde. Damit wir endlich sagen konnten, wie gut es uns geht, wie schön es hier ist.

Im Nebenzimmer saßen die G.’s und hörten jedes Gespräch mit. Den restlichen 20 Kindern galt das Klingeln nicht. Die Wenigsten hatten noch irgendjemanden, der sie anrufen konnte oder durfte.

Den kleinen M. B. hatte Horst G. gerade mit dem VW-Bus aus Hamburg abgeholt. Er telefonierte mit seiner Mutter und erzählte, wie furchtbar es hier doch sei. Dieser Anfänger, der keine Ahnung hatte, die dummen Fehler machte, die viele anfangs begangen. In dem schmalen, schlauchförmigen Gemeinschaftsraum saßen wir gerade beim Abendessen. Es gab Panzerplatten, wie wir die Eierpfannkuchen nannten, bei denen wir ein Ei pro Kilo Mehl vermuteten und die ohne Flüssigkeit nicht runterzukriegen waren.

Wir alle zuckten jedes Mal zusammen, wenn Horst G. oder seine Frau den Raum betraten. Diesmal war M. B. dran. Wie aufgedunsen und fett er doch hier angekommen sei, wie seine Mutter ihn hat verwahrlosen lassen, was für eine erbärmliche Alkoholikerin sie war, wie verkommen er doch ist. Was ein Zehnjähriger dafür wohl kann und ob ihm jetzt nicht eventuell besser Rehabilitierung angedient wäre. Der Kleine brach heulend zusammen. Jeder war mindestens einmal dran. Vor versammelter Mannschaft. Noch Beschwerden?

Als ich bei meinem Einzug ein Poster aufhängen wollte, fragten mich meine Mitbewohner, ob ich lebensmüde sei. In den mit grüner Kunststofffarbe gestrichenen Zimmern gab es einen Kleiderschrank mit Textilien, den sich zwei teilen mussten. Darüber hinaus war jegliches Besitztum untersagt. Freundschaften unter Kindern waren verboten. Die Zimmer und der „Freie Ausgang“ wurden möglichst immer mit Kindern belegt, die nicht gut miteinander konnten.

Pro Woche gab es acht Mark Taschengeld, nicht ausgezahlt, sondern auf einem Konto gutgeschrieben. G. verkaufte samstagabends Süßigkeiten und Obst, damit auch der Vitaminbedarf gedeckt werden konnte. Wer es wagte, beim Ausgang Mitschüler aus dem Dorf zu besuchen, hatte als Sanktion wochenlang Einkaufssperre.

Und immer dieser kleine sechsjährige D., der mir hinterher lief und mich fragte, ob ich nicht sein Freund werden könnte. Das machte er bei jedem, der neu ankam. Er hatte es noch nicht begriffen. Außerdem gehörte er mit H. zu den „Bettpissern“, die isoliert im Dachgeschoss schliefen und gelegentlich als Sanktion eingesetzt wurden. Gerade hatte ich mich doch mit einem Mitbewohner angefreundet, als ich mit H. zusammengelegt wurde. Abends musste ich ihm eine grüne Masse auf die Fingernägel schmieren, welche Brechreiz verursachte. Er kaute auf den Fingernägeln.

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