Unser Vokabular im Umgang miteinander wurde geprägt von einem kleinen, untersetzten Mann, dessen Leben aus Mathematik und Kampfsport bestand. Ein Waffennarr, der die Kinder auch mal zur Belohnung scharf schießen ließ und ständig mit einem dicken Schlüsselbund in der Hand bewaffnet durch die Zimmer marschierte. Wem es wohl diesmal an den Kopf flog? Arm aufstützen reichte.
Rinteln
"Das Trauma verfolgt mich bis heute"
Von Theodor Samt
Im früheren Kinderheim hat Theodor Samt in den siebziger Jahren anderthalb Jahre gelebt – heute ist das Haus in Privatbesitz. Zwei Kinder hatten die G.’s. Die jüngere S. und den 16-jährigen B. Ein bulliger Kerl mit Braungurt und nach Vorbild des Vaters mit Muskeln bepackt. Der junge Mann hielt abends die Judokurse ab, und wenn er schlechte Laune hatte, schmiss er die kleinen Leiber mit voller Wucht gegen die Holzwand. Die Kinder lagen dann vor Schmerzen gekrümmt auf der Matte. Überhaupt waren Schmerzen ein probates Mittel zur Abhärtung.
Öfters ging er mit den Kindern in den Wald zum Trainieren. Einmal schob er mir, mit einem älteren Jungen zusammen, einen langen Knüppel zwischen die Beine, den sie dann gemeinsam mit einem Ruck anhoben. Ich flog zwei Meter weit, lag dort eine halbe Stunde fast ohnmächtig und dachte, du wirst jetzt niemals Kinder kriegen können. Auf Beschwerden folgten lediglich Sanktionen.
„Als ich älter wurde, eskalierte es. Ich war 15, ständig isoliert und eingesperrt, wollte einmal ins Kino gehen, einmal einen Tanzabend besuchen und begann zu rebellieren. Dann riefen die G.’s ihren Sohn, um mich im Nebenzimmer von ihm zusammenschlagen zu lassen“, erinnert sich R.S. (ein ehemaliger Heimbewohner, Anm. der Red.).
Fast jedes der rund 40 Kinder, welche die G.’s bis 1977 ihrer Kindheit beraubt hatten, sie ausbeuteten, erniedrigten und demütigten, hätte heute Abend so eine solche Geschichte erzählen können.
„Warum hast Du…“ – „Ich habe…“ – „Interessiert mich nicht, warum hast Du…“ – „Ich wollte…“ – „ Interessiert mich nicht, warum hast Du…“ – „Ich dachte…“ – „Interessiert mich nicht.“
Und wieder brach ein kleiner Junge heulend zusammen, den wir dann noch lange wimmern hörten. Welchen pädagogischen Wert mag diese Zeremonie dieses brüllenden Tyrannen wohl gehabt haben, der keine Antworten zuließ?
Wenn Du gefragt wirst, interessiert Deine Antwort niemanden. Lerne Deine Lektion, lerne zu schweigen. Hört sein Winseln, Ihr elenden niederen Wesen. Niemand wird Euch helfen. Ich war 13 und die Hilflosigkeit der Jüngeren ansehen zu müssen, ist ein Trauma, das mich bis heute verfolgt.
Alle drei Monate kam ein Herr F. vom Jugendamt aus Hamburg. Ein älterer Herr, der es sich zum Wochenende im Weserbergland gut gehen ließ und dann jedes einzelne Kind für zehn Minuten nach dem Wohlbefinden befragte. Keine Klagen. Wie merkbefreit muss ein Mensch sein, zehn Jahre lang den elenden Gesichtsausdruck der Kinder nicht zu erkennen, die in einer plüschtier- und spielzeugfreien Zone lebten? Wie viel Menschenkenntnisse braucht es, um das Gesicht dieses Mannes zu deuten? Man munkelt über reichliche Schmiergeldzahlungen.
Während wir am Abend in einem kleinen Zimmer auf Holzstühlen fernsehen durften, dessen Programm abrupt per Schaltuhr nach einer Stunde beendet wurde, lümmelten sich G.’s Kinder im Nebenzimmer auf einem gemütlichen Sofa mit endlos TV, bei Chips und Cola. Freimütig lebten sie uns das schöne Familienleben vor, während fast alle Heimkinder nur einen Gedanken hatten: Endlich volljährig und unabhängig werden, endlich diesen elenden Lebensabschnitt, namens Kindheit, hinter sich zu bringen. R. W. (Name ist der Redaktion bekannt) hat in diesem Heim zehn Jahre verbracht. Später machte er eine Traumatherapie und kämpft um das mentale Überleben, damit nicht auch bei ihm die Amnesie eintritt.
Sie lebten in Luxus pur, fuhren tolle Autos und gönnten sich schöne Villen, an denen die Kinder für lau mitarbeiten durften. Mauern, Fliesen legen, malen, tapezieren, schaufeln, Hecken schneiden. Es war sogar ein Privileg. Endlich konnte man für ein paar Stunden aus diesen kahlen Wänden raus und wenigstens mal anschauen, wie ein intaktes Familienleben mit Haus im Grünen aussieht. Zur Belohnung gab es dann die Baukästen, die das Jugendamt zur Verfügung stellte.
Jeden Montag gab es eine kleine Tasse Milch und der Geruch von Hagebuttentee löst noch heute bei mir Brechreiz aus. Stolz führte Horst G. seinen Taschenrechner mit Algorithmen vor, 900 Mark. Oder den ersten Videorecorder in Farbe, 6000 Mark.
Die älteren Jungs, die beim Einkaufen mit in die Metro fuhren durften, begannen mitzurechnen. Mit 600 bis 800 Mark pro Monat ernährten die G.’s durchschnittlich 24 Kinder, rund eine Mark pro Tag und Kind. Dazu stellten sie reichlich Anträge aus den damals noch üppigen Budgets der Jugendämter. Nichts davon haben wir je gesehen. In zehn Jahren ist nicht ein Plüschtier, nicht ein Spielzeugauto, nicht ein Kartenspiel bei den Kindern angekommen.
Wenn ich zum Wochenende mit dem Zug nach Hause fahren durfte, bekam ich zehn Mark Taschengeld – man staune – ausgezahlt. Dazu ein paar Bemmen, fingerdick mit edler Wurst und Käse belegt. Das Geld wurde in Süßigkeiten umgesetzt und die Bemmen kamen konzeptgerecht zu Hause unvertilgt bei meiner Mutter an, die erstaunt war über den üppigen Ernährungsplan.
Auch das Personal wurde billig eingekauft. Für die Kleinen gab es eine Witwe mit drei Töchtern, die auf jede Mark angewiesen war. Für die Älteren einen unübersehbar pädophilen Erzieher, der ein eigenes Zimmer im Heim bekam, den Jungs beim Duschen zuschauen durfte, sie öfters zu sich ins Zimmer nahm und dafür für einen Hungerlohn arbeiten musste. Irgendwann wurde er diskret gegangen.
Ein Jahr habe ich das mitgemacht, dann erwachte in mir der Rebell. An einem Wintersonntag mit minus 13 Grad suchte ich einen Schulfreund auf einer Hühnerfarm auf, klaute eine Flasche Brandy aus dem Regal seiner Eltern und trank sie leer. Der Heimweg endete nach 50 Metern in einer Jauchegrube.
Ein Heimkind fand mich zufällig, wollte im Heim Hilfe holen. „Wer saufen kann, muss auch allein nach Hause finden“, spottete Horst G. Ob er mir wenigstens eine Decke bringen darf, „der erfriert sonst“. Nein.
Passanten fanden mich. Mit 26 Grad Körpertemperatur kam ich ins Krankenhaus Rinteln. Noch 15 Minuten hätte ich zu leben gehabt. Drei Tage lag ich im Koma und begann, in der Aufwachphase über die Zustände im Heim zu reden. Die Ärzte schalteten die Polizei ein. Im Hintergrund rumorte es. G. schickte mich zum Dorfarzt, der mich mit Librium und Frisium, knallharten Psychopharmaka, vollpumpte. Man brachte mich zum Schweigen und ich bekam die Nebenwirkungen – Depressionen. Meine Mutter holte mich aus dem Heim. Ein Jahr später landete ich für ein halbes Jahr in der Jugendpsychiatrie.
Jahrelang habe ich mich danach gefragt, warum ich so lange gelogen habe, dass es mir dort gut ging und es mir toll gefiel. Damals glaubte ich noch, meine Aktion hätte dem Heim das Ende bereitet. Heute erfahre ich, dass es noch fünf Jahre so weiter ging.
Die Kinder wurden älter und sie rebellierten immer lauter. Es kam zum Skandal. Irgendwann, 1977, holte das Jugendamt sämtliche Kinder in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ab. R.W. blieb noch als einer der Letzten im Heim und bekam den Auftrag, Aktenberge auf dem Hof zu verbrennen, und las ein wenig darin. Manipulierte Entwicklungsberichte, Anträge auf Mittel, die bewilligt wurden, aber die Kinder nie zu sehen bekamen. Sämtliche Akten und Beweise wurden vernichtet. Keine Behörde hatte selbst in dieser Situation daran gedacht, sie sicherzustellen und auch den mutmaßlichen Betrug aufzudecken. Oder war das gar gewollt?
Die Kinder der G.’s, die das alles bewusst mitgemacht haben, hilflose Schutzbefohlene schwer misshandelten, leben heute in ihren netten Villen. Man sollte ihr Vermögen, das sie mit dem Elend der Kinder gemacht haben, konfiszieren und es für Therapien und Entschädigungen einsetzen. Doch wer interessiert sich überhaupt dafür?
„Die Landesregierung will den ehemaligen Heimkindern helfen, damit die Betroffenen endlich mehr Licht in eines der dunkelsten Kapitel der deutschen Jugendhilfe bekommen“ – so steht es auf der Homepage des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit. Ich schreibe der Ministerin einen ausführlichen Bericht.
Das Referat zeigt sich beeindruckt, hat von einem Heim G. noch nie etwas gehört und sucht noch nach dem, den man mal nach Unterlagen fragen könnte, so es sie gibt. Es ist gerade mal 30 Jahre her und in den Jahren sind etliche in Psychiatrien gelandet, ohne dass es irgendwo Aufzeichnungen dieser Verbrechen an Kindern gab? „Falls wir noch was finden, melden wir uns formlos per E-Mail.“ Das war vor über einem Jahr. Man habe versucht, „in möglicherweise befassten Institutionen Ansprechpartner für Ihre Angelegenheit ausfindig zu machen, bislang jedoch ohne Erfolg“.
Wie wäre es mit der Schule Deckbergen und der beigefügten Adresse der beiden Frauen, die alle Adressen der Kinder ausfindig gemacht haben und deren Aussagen bestätigen könnten? Die Vorarbeit war auf dem silbernen Tablett vorbereitet. Niemand hat sie angerufen.
Auf Nachfrage, über versprochene Therapieeinrichtungen, reicht das Ministerium eine Liste mit Einrichtungen, an die man sich wenden könne. Ich rufe drei an. „Heimkinder missbraucht? Therapie? Wir?… Nee, wissen wir nichts von…“
Das vermeintliche Netzwerk von Therapeuten zur Aufarbeitung existiert nicht. Und auch die Kostenfrage muss jeder für sich selbst regeln. Ob es denn wenigstens für uns die Möglichkeit gäbe, einen Status als heimgeschädigtes Kind bescheinigt zu kriegen, möchte ich wissen. Fehlanzeige.
Runder Tisch, Wiedergutmachung, Anerkennung. Auf dem Rücken der Kinder, die Opfer schwerer Verbrechen in staatlicher Obhut wurden, wird auch noch zuletzt Politik gemacht.